Lernen, es geht imer weiter. keine Angst haben...

16. Januar 2018, 22:00Uhr

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Nichts, wofür man sich schämen muss

Bildung Analphabeten brauchen großen Mut, um sich Hilfe zu holen. In Ulm gibt es ein kostenloses Angebot für sie, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Von Lukas Wetzel


Das ist doch nichts, wofür man sich schämen muss, oder?“, entgegnet Ramona Kirsch keck auf die Frage, ob sie über ihren Analphabetismus sprechen will. Gerade war sie noch über ihre Lernmaterialien gebeugt, nun blickt sie erwartungsvoll auf, sucht nach Bestätigung für ihre Empfindung. Vor kurzem sei das „Bedürfnis, es zu verheimlichen“ noch groß gewesen, sagt sie später. Doch Ende Oktober „hat sich ein Knoten gelöst“. Die 52-Jährige öffnete sich auch gegenüber dem Arbeitsamt. Seitdem besucht sie das Grundbildungsprogramm „Allez“ („Los geht‘s“). „Faktori“, ein Institut für berufliche Bildung in Ulm, bietet es seit Ende 2015 an. Bezahlen müssen die Teilnehmer für das Programm nichts.


Die Lehrerin Birgit Ringeis bringt Kirsch und zwei weiteren funktionalen Analphabeten dort Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Ohne Vorkenntnisse sind die Teilnehmer nicht. Funktionale Analphabeten „können rudimentär Lesen und Schreiben, haben aber Probleme, zusammenhängende Sätze zu verstehen oder zu schreiben. Deshalb haben sie einen Nachteil an der Teilhabe an der Gesellschaft“, erklärt Ilka Koppel, die an der Pädagogischen Hochschule Weingarten lehrt. Sie ist die bundesweit erste Juniorprofessorin für Alphabetisierung, den Prozess der Vermittlung der Lese- und Schreibfähigkeit. Nach Angaben des Wissenschaftsministeriums gibt es im Südwesten mehr als eine Million funktionale Analphabeten. Bundesweit „haben über 80 Prozent einen Schulabschluss und über 50 Prozent gehen einer geregelten Beschäftigung nach“, sagt Koppel.


Ramona Kirsch ist vom Ulmer Programm positiv überrascht: „Ich habe erwartet, dass man mich hänselt“ – eine Erfahrung, die sie früher gemacht hat. Sie hat als Altenpflegerin gearbeitet. „Irgendwann sind die Kollegen dahinter gekommen. Sie haben mich ausgelacht und gehänselt.“ Nur ihre Chefs haben hinter ihr gestanden. Zur Arbeit ist sie irgendwann trotzdem nicht mehr gegangen. „Ich habe mich geschämt.“ Seit 2008 ist sie arbeitslos. Sich eine neue Arbeit suchen, kann sie aus gesundheitlichen Gründen nicht. Motiviert zu lernen, ist sie dennoch: „Jetzt hab ich den Willen und möchte dranbleiben.“


Die Ursachen für Analphabetismus seien „unterschiedlich“, sagt Expertin Koppel. „Das fängt im Elternhaus an, wo es keine Ressourcen seitens der Eltern gibt, sich um die Schulbildung der Kinder zu kümmern.“ Manche lernten nie richtig Lesen und Schreiben, würden aber „durch das Schulsystem getragen“. „Sie gleichen die Deutschnote mit anderen Fächern aus“ oder die Lehrer zeigten sich kulant. Andere verlernten Lesen und Schreiben nach der Schule wieder.


Gegenüber von Kirsch sitzt der 52-jährige Walter Sauter. Vertieft in ein Arbeitsblatt, spricht er leise vor sich hin: „Länder“ oder „Lender“? „Löffel“ oder „Lüffel“? Sauters Aufgabe ist es, die falsche Schreibweise durchzustreichen. Nach der Vorderschule hat er eine Ausbildung zum Maurer begonnen. „Das hat keinen Wert“, hat sein Chef ihm irgendwann gesagt. Sauter brach die Ausbildung ab. Aufgegeben hat er nicht. Er war schon bei der Müllabfuhr und als Lagerarbeiter tätig. Nun will er wieder arbeiten, doch „bei Bewerbungsgesprächen tue ich mich mit den Formularen schwer“. Im Alltag hilft ihm sein Freundeskreis – oder Sauter arbeitet mit Tricks: Beim Handy orientiert er sich etwa an den Symbolen und lernt die Nummern auswendig. Mit dem Analphabetismus geht er offen um: „Ich sage es lieber gleich.“


„Es kostet eine unglaubliche Kraft, nicht entdeckt zu werden“, sagt Koppel. Betroffene entwickelten „Vermeidungsstrategien“ und suchten Ausreden wie „ich habe meine Brille vergessen“. Um nicht schreiben zu müssen, verletzten manche sich gar die Hand.


Viele Analphabeten holen sich keine Hilfe. Faktori hatte sich 50 Teilnehmer zum Ziel gesetzt, bis das Programm im August 2018 ausläuft. Bis jetzt haben nur etwa 30 mitgemacht – und das, obwohl das Institut viel für das Programm werbe, sagt Volker Lehmann, Geschäftsführer von Faktori. „Es braucht meistens einen Vermittler, der die Betroffenen anschubst“, sagt Ringeis. Für Kirsch war es ihr langjähriger Freund, der sie ermutigt hat. Heute hört er sie zuhause im Lesen und Schreiben ab. Für Kirsch sei durch das Programm „ein Licht aufgegangen“. Bis August sind noch einige Plätze frei. „Wenn dieser Artikel in der Zeitung erscheint, werden die Betroffenen selbst das nicht lesen können“, sagt Lehmann. Es sei denn, ein Vermittler liest es ihnen vor.

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