Radfahren in Neu-Ulm...

07. November 2017

Lesen SIE bitte diesen Bericht in der NUZ..

Achtung, Radler!
Verkehr Radfahren ist beliebt wie nie. Doch damit steigen auch die Unfallzahlen. Wo sich die Probleme ballen, welche Rolle E-Bikes dabei spielen und warum ein Forscher sagt: „Da kommt einiges auf uns zu“

Von Andreas Frei

Neu-Ulm Sollte tatsächlich so etwas wie ein Radl-Problem auf die Region zurollen, und abwegig ist das nicht, dann nimmt es bestimmt eine der vier Einfahrten in den Allgäuer Ring. Zyniker jedenfalls würden das so sehen. Da steht man hier an einem grauen Morgen, die Herbstkälte kriecht die Beine hoch, und kommt nach einer Stunde Schauen und Staunen zu dem Schluss: Dieser Kreisverkehr in Neu-Ulm hat fast alles, was es braucht, um das Radl-Problem zu veranschaulichen. Ein spannendes Studienobjekt – nüchtern betrachtet. Ein gefährlicher Unfallschwerpunkt, wenn man ihn jeden Tag queren muss. Was man später um ein Haar erleben wird – bizarrerweise gleich neben dem Schild: „Erhöhte Unfallgefahr“.

Ausgerechnet das Fahrrad. Dessen Entwicklung ja seit Jahren eine einzige Erfolgsgeschichte ist. Allein die steigende Zahl der Nutzer, bedingt durch den sagenhaften Boom des E-Bikes, also des Pedelecs, wie das Massenprodukt korrekt heißt. Dann die Vielfalt. Die technische Revolution. Der gesundheitliche Effekt. Die Erkenntnis, dass Kommunen ihre Verkehrsströme und Umweltprobleme nur in Griff bekommen werden, wenn sie dem Fahrrad mehr Platz einräumen.

Dieser Erfolg aber bringt zwangsläufig ein Problem mit sich: Wo mehr fahren, passiert auch mehr. Von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der Radunfälle und auch die der Verletzten. Nicht exorbitant, aber stetig. In Bayern insgesamt und auch in unserer Region. So verletzten sich 2012 schwabenweit noch 2158 Radfahrer, 2016 aber schon 2587 – ein Plus von 20 Prozent. „Da kommt einiges auf uns zu“, sagt einer, von dem noch die Rede sein wird, weil er es wissen muss.

„Schauen Sie sich das an“, sagt erst mal Walter Radtke. Das Vorstandsmitglied in der örtlichen Gruppe des Radklubs ADFC kämpft gegen den Motorenlärm am Allgäuer Ring an. „Ein Chaos ist das.“ Dann legt er los, zeigt mal hierhin, mal dorthin, er könnte stundenlang reden. Über den Radweg, auf dem man nur stadteinwärts fahren darf, drüben auf der anderen Seite ist der Weg aber in beide Richtungen frei – obwohl auf dem schmalen Streifen nicht wirklich Platz ist für Gegenverkehr. Oder über den Schilderwald. Die Umlaufsperren, die die Stadt vor ein paar Monaten aufgestellt hat, in der Hoffnung, das Risiko wenigstens etwas zu senken. Weil: Die Fußgänger haben am Zebrastreifen Vorrang, die Radler direkt daneben aber müssen anhalten, „das kapiert doch keiner“, schimpft er.

Radtke fügt gleich hinzu, dass es natürlich auch hier Radl-Rowdys gebe, die die Schilder bewusst ignorieren, das Ganze hier als rechtsfreien Raum betrachten. Im täglichen Kampf – manche sagen „Krieg“ – um Vorfahrt, Platz und Geschwindigkeit ist es Realität, dass manche Autofahrer rücksichtslos sind. Und manche Fußgänger unbelehrbar. Und eben manche Radler grob fahrlässig. Dann kracht es und einer verliert, meist der Schwächste. Walter Radtke hat ein großes Herz für das Fahrrad, aber so ein Verhalten geht auch ihm gegen den Strich.

Im bayerischen Innenministerium heißt es, bei fast zwei Drittel aller Unfälle mit Rädern liege die Schuld bei den Radfahrern selbst. Beispielsweise aus Unachtsamkeit heraus, aber eben auch wegen grober Fahrlässigkeit. Dem hält der ADFC entgegen, dass 75 Prozent aller Unfälle zwischen Rädern und Autos von den Autofahrern verursacht würden, und beruft sich dabei auf das Statistische Bundesamt.

In der einen Stunde am Allgäuer Ring geht alles gut. Mit etwas Glück auch für die Radlerin, die mal eben mit Karacho über den Zebrastreifen brettert. Ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, geschweige denn auf das Vorfahrt-achten-Schild vor ihrer Nase. Radtke zuckt mit den Schultern.

Es geht ja noch weiter mit den Problemen. An der Ecke mit der Großbaustelle etwa, wo Wohnungen entstehen. Da ist der Radweg mit Baufahrzeugen zugeparkt. Und dann natürlich die vielen Autos. „Eine zweispurige Einfahrt in den Kreisverkehr ist ein Unding. Die Fahrer schauen nach links, aber viele nicht nach rechts.“ Und manche fahren mit ordentlich Tempo durch.

Zwei Ausfallstraßen laufen hier zusammen: Ringstraße und Memminger Straße, die wichtigste Nord-Süd-Achse der Stadt. Auf der einen Seite befinden sich mehrere Schulen, ein Stück weiter die Hochschule und die Ratiopharm-Arena, eine große Veranstaltungshalle. Dazu das Wohn- und Gewerbegebiet, das auf dem Areal einer früheren US-Kaserne entstanden ist. Auf der anderen Seite des Kreisels kommt schon nach 200 Metern der Einkaufskomplex Glacis-Galerie. Das heißt: Hier ballt sich der Verkehr auf wenigen Metern.

Deshalb gab es hier schon immer Unfälle mit Radlern, erzählt Radtke. Im Schnitt mit etwa zehn Verletzten im Jahr. Mehrfach hat die Stadt versucht, den Kreisel zu entschärfen. Einmal hat man die zweispurigen Einfahrten für Autos einspurig gemacht. Mit dem Ergebnis zunehmender Staus. Also Kommando zurück. Aber Neu-Ulm wächst weiter und damit der Radverkehr, der eh – siehe Erfolgsgeschichte – in Mode ist. Und dann kam dieser verhängnisvolle Unfall im Januar 2016.

„Da drüben ist es passiert“, sagt Radtke und zeigt auf die Ausfahrt in Richtung Osten. Ein 76-jähriger Radler und ein 79-jähriger Autofahrer. Die Kopfverletzungen des Radfahrers waren am Ende zu schwer. Der tödliche Crash hat die Debatte über den Allgäuer Ring neu entfacht. Seitdem gab es weitere Unfälle. Als die Stadt dann die Umlaufsperren aufstellte, blieb auch noch ein Radfahrer darin hängen, stürzte und kugelte sich die Schulter aus.

Nun stehen im Stadtrat drei Umbauvarianten zur Diskussion: ein großer und damit besonders teurer Wurf mit einer räumlichen Trennung der Verkehrsteilnehmer samt Unterführung, eine ampelgesteuerte Kreuzung und drittens Korrekturen bei den Einfahrten plus kleine Verkehrsinseln. Die Varianten müssen nun vor dem Hintergrund der neuen Verkehrsprognose für Ulm/Neu-Ulm näher betrachtet werden, sagt Stadtsprecherin Sandra Lützel. Die soll demnächst vorgestellt werden. Das Ganze werde also „noch einige Zeit in Anspruch nehmen“.

Im Neu-Ulmer Problem steckt ein Dilemma, das viele Kommunen kennen. Viele Radwege entstanden in einer Zeit, als der Verkehr noch deutlich geringer war, oder mussten in ein bestehendes Straßen- und Gehwegnetz hineingepresst werden. Wo nun im günstigen Fall alle ihren Platz haben, davon aber zu wenig. Oder es gibt gar keinen Radweg und die Radler fahren abwechselnd auf der Straße und auf dem Gehweg.

Nun steigt die Zahl der Radfahrer. Bedeutet: höheres Risiko für alle. Und die heutigen Fahrräder benötigen mehr Platz – die Pedelecs, die herkömmlichen Räder mit Kinder-Anhänger, die zunehmenden Lastenräder. Wie soll da sicheres Fahren auf 1,50 Meter breiten Streifen gehen? Auf der anderen Seite: Der Platz ist begrenzt. Wenn gebaut und gebaut wird: Wer soll das bezahlen? Und gibt es nicht genügend Gehwege, die auch zu schmal sind? Jeder fordert sein Recht – und vergisst dabei gerne den Nebenmann.

Hinzu kommt noch ein Faktor. Sollen wir ihn Schicksal nennen? Das zuschlägt, obwohl kein Verkehrsteilnehmer dem anderen was Böses will. Lkw neben Radler an einer roten Ampel etwa. Jeder auf seiner Spur. Beide bekommen gleichzeitig Grün. Aber der Radler sieht nicht, dass der rechte Blinker des Lastwagens leuchtet. Und der Lkw-Fahrer sieht nicht, dass überhaupt ein Rad neben ihm steht, Stichwort „toter Winkel“. Beide fahren los.

Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Er sagt: „Die Abbiegeunfälle sind das Hauptproblem.“ Weil sie für den Radler oft tödlich enden. Wie im Fall einer 29-Jährigen im September in Augsburg. Oder eines 16-Jährigen Anfang Oktober in Kaufbeuren.

Schicksal? Mit dem Begriff haben einige Experten ein Problem. Das sei durchaus beeinflussbar, sagen sie – wenn Radfahrer beispielsweise im Zweifel immer davon ausgehen würden, dass der Lastwagenfahrer einen nicht sieht, rät Benjamin Schreck von der Bundesanstalt für Straßenwesen. Oder wenn Kreuzungen so markiert wären, dass der Radfahrer an der Ampel nicht neben, sondern leicht vor dem Lkw hält. Oder automatische Abbiege-Assistenzsysteme, bei denen ein Computer den Lkw-Fahrer warnt, wenn er einen Fahrradfahrer beim Abbiegen übersieht. In vielen neuen Lastwagen sind diese schon Standard, aber eben nur in den neuen.

Und dann die Sache mit den Pedelecs. „Oh ja“, sagt ADFC-Mann Radtke und zieht die Augenbrauen hoch. Eine gigantische Entwicklung sei das. Weil nun auch Menschen radeln, die zuvor schon beim Gedanken daran die Nase rümpften. „Aber vielen sieht man an, dass sie unsicher sind“, sagt Radtke. Pedelecs sind vergleichsweise schwer, beschleunigen schnell, und es ist dank des Elektro-Zuschaltmotors nicht viel Kraft nötig, um auf die Höchstgeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern zu kommen. Und dann?

Unfallforscher Brockmann hat das Fahrverhalten von E-Bikern untersucht und seine Erkenntnisse gerade erst bei einer Tagung in Berlin vorgestellt. Er sagt: Pedelecfahrer sind schneller als Fahrradfahrer in ihrer jeweiligen Altersgruppe, wenn auch der Unterschied nicht so groß ist wie vermutet. Regelverstöße wie das Überfahren roter Ampeln oder Fahren auf dem Gehweg kommen genauso häufig vor wie bei herkömmlichen Radlern. Bei Unfällen mit dem Pedelec gibt es einen „sehr hohen Anteil älterer Fahrer“. Unfallursache, schlussfolgert Brockmann, „ist meist der Kontrollverlust über das Pedelec, bei älteren Fahrern auch unangepasste Geschwindigkeit“. Möglicherweise führe der E-Motor „zu einem den eigenen Fahrfähigkeiten nicht angepassten Fahrstil, der ohne die Tretunterstützung nicht möglich wäre“. Die Folgen sind jedenfalls gravierend: „Pedelecfahrer verunglücken schwerer als Fahrradfahrer ihrer jeweiligen Altersgruppe.“

Und dann sagt Brockmann den Satz, der das heranrollende Radl-Problem ankündigt: „Da kommt einiges auf uns zu.“ Zweifelsohne gebe es gute Projekte, Kommunen fahrradfreundlicher zu machen. Doch die Zahl der Radfahrer steige schneller, als die Infrastruktur wächst. „Dafür geschieht dann doch zu wenig.“ Oder das Falsche, wie er findet: „Man fördert Rad-Schnellwege und zieht damit noch mehr Radverkehr von den Außenbezirken in die Stadt, ohne dass dort das Netz mitwächst.“ Gemessen daran, sagt Brockmann, falle die Zahl der Radunfälle noch moderat aus. „Aber das wird sich ändern.“

Und dann? Muss irgendwann der Gesetzgeber eingreifen, wie einst beim Auto, als die Gurtpflicht eingeführt wurde? Also doch Helmpflicht, zumindest für Pedelecs? Oder eine Abriegelung des Motors, sagen wir, bei 20 Stundenkilometern statt 25? Oder gleich ein Radl-Führerschein?

Das Fahrrad ist jetzt 200 Jahre alt, und so schlimm wie Mitte des 19. Jahrhunderts wird’s schon nicht werden. Damals gab es noch die von Karl Freiherr von Drais entwickelte Laufmaschine, Vorläufer des heutigen Fahrrads. Die war aber auf den lehmigen Straßen nicht zu gebrauchen. Die Fahrer wichen auf die Gehwege aus. Folge waren jede Menge Unfälle. Quer durch Europa wurden die Gefährte deshalb verboten. Der Absatz sank rapide, die Laufmaschine verschwand in der Versenkung. Wie gesagt: So schlimm wird’s nicht werden.

Über das „Chaos“ könnte der Mann stundenlang reden

Kommt die Helmpflicht? Oder gleich der Führerschein?

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Kommt die Helmpflicht? Oder gleich der Führerschein?

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