Kinder und Jugendliche... Entwicklungen

21. März 2017

Lesen SIE bitte die SWP..

Das Internet wirkt wie ein Brennglas“

Kinderpsychiatrie Mobbing bedient sich immer neuer Diskriminierungsbegriffe. Was da alles ins Netz gestellt wird, kann die Ursache für seelische Krisen sein, sagt Prof. Jörg Fegert. Von Rudi Kübler


Warum hast du dich nicht für Ulm beworben? Jörg Fegert (60) hatte zunächst gar nicht daran gedacht, seinen Hut in den Ring zu werfen, als der Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uni-Klinikum zu besetzen war. Erst der Anruf seines Ulmer Kollegen Manfred Spitzer ließ ihn nachdenklich werden. Was folgte: die Bewerbung kurz vor Torschluss. Bereut hat er den Umzug von Rostock nach Ulm bis heute nicht. „Die Abteilung neu aufzubauen und in etwas Dauerhaftes zu überführen, war eine tolle Herausforderung. Das hier ist mein Baby“, sagt Prof. Fegert, der die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie seit nunmehr 16 Jahren leitet – und immer noch mit viel Elan unterwegs ist. Auch in Berlin für die Bundesregierung. Von morgen an erwartet er als Präsident des in Ulm stattfindenden Kongresses „Dazugehören! Bessere Teilhabe für traumatisierte und psychisch belastete Kinder und Jugendliche“ mehr als 1500 Teilnehmer.


Täuscht der Eindruck oder nimmt die Zahl auffälliger Kinder und Jugendlicher zu?


Jörg Fegert: Ich glaube, dieser Eindruck täuscht. Wenn wir Studien aus verschiedenen Jahrzehnten anschauen, dann liegt die Häufigkeit der auffälligen Kinder und Jugendlichen relativ stabil bei 20  Prozent und die Häufigkeit belastender Kindheitsereignisse wie Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch bei knapp einem Drittel aller Kinder. Was sich geändert hat, ist die Nutzung der Hilfsangebote, vor allem in Akutfällen. Früher gab es ein größeres Dunkelfeld, die Menschen haben sich oft nicht getraut, Hilfe zu holen . . .


. . . aus Angst, stigmatisiert zu werden . . .


. . . ja, da hat sich eine andere Haltung durchgesetzt in der Gesellschaft. Heute holen Eltern Rat und Hilfe, „bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“. Über Erkrankungen wie beispielsweise Depression kann man mittlerweile reden. Wir haben aber auch mehr zu tun, weil die Einrichtungen der Jugendhilfe massiv in Anspruch genommen werden und Heime teilweise erhebliche Probleme mit sehr belasteten Jugendlichen haben. Dazu kommen die unbegleiteten Flüchtlinge. Aber der Eindruck, die Jugend sei noch nie so schlimm gewesen wie heute, ist falsch.


Mit welchen Krankheitsbilder haben Sie in Ihrer Klinik zu tun?


Bei kleinen Kindern bis zum Schulalter versuchen wir stationäre Aufnahmen zu vermeiden. Wenn wir die in der Klinik haben, dann meist wegen massiver Vernachlässigung oder Misshandlung, die eine Pflegefamilie überfordern würde. Gott sei Dank sind diese extremen Fälle selten, sie sind aber auch sehr befriedigend, weil die Kinder oft ein riesiges Aufholwachstum sowohl im Intellektuellen als auch im Körperlichen haben . . .


. . . da reicht es, dass die Kinder aus ihren Umgebung herausgeholt und systematisch gefördert werden . . .


. . . ja, genau, sie blühen auf, wir können regelrecht sehen, wie die Kinder profitieren. Bei den Schulkindern haben wir überwiegend Jungs, das ist weltweit so in der Kinderpsychiatrie. Jungs sind häufiger aggressiv, haben häufiger ADHS. Wer das sehr ausgeprägt hat, droht aus der Schule zu fliegen, weil er den Unterricht stört. In diesen Fällen brauchen wir eine enge Zusammenarbeit mit der Klinikschule, um die Kinder zurück in eine Schullaufbahn zu bringen. Oft ist der Aufenthalt eine Art Weichenstellung mit dem Ziel, Teilhabe wieder zu ermöglichen.


Wir sprechen aber nur von sechs- bis zwölfjährigen Jungs . . .


Wir behandeln natürlich auch Mädchen mit diesen Symptomen, Kinder mit Angststörungen, Zwangs- oder Tic-Erkrankungen – also das ganze Spektrum. Dominiert wird das doch eher von den aggressiven Jungs.


Und mit Beginn der Pubertät?


Da schlägt das Pendel ein bisschen um. Die Depressionen bei den Mädchen nehmen zu, wir stellen Essstörungen bei Mädchen und Jungs fest. Früher waren es fast nur Mädchen, sie haben gehungert, heute ist sehr viel häufiger eine bulimische Komponente mit dabei. Wir haben sehr viele Jugendliche, die sich schneiden und ritzen. Im Jugendalter treten Schizophrenien und manisch-depressive Erkrankungen auf. Das Spannende an der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist: Wir können nicht generell sagen, dieses Verhalten ist normal und jenes auffällig. Trennungsangst bei einem zweijährigen Kind ist etwas Gesundes und völlig Normales. Wenn aber eine 15-Jährige noch bei den Eltern im Bett liegt und nicht zur Schule gehen kann, weil sie Angst hat, dass den Eltern etwas passiert, dann ist das eine schwere chronische Erkrankung, eine Problematik mit einer katastrophalen Prognose – wenn man nicht einschreitet.


Wann müssten Eltern denn hellhörig werden? Was sind Alarmsignale?


Meistens spricht man darüber mit dem Partner, mit den Großeltern. Wenn einen diese Sorgen nicht mehr loslassen, ist das ein Anlass, sich Hilfe zu holen. Das Problem: Oft wird zu lange weggeschaut. Kindergärtnerinnen und Lehrern kommt in diesen Fällen eine zentrale Bedeutung zu, sie sehen die Kinder nicht durch die Brille der Eltern, sondern im Vergleich mit anderen. Häufig sieht man in der Gleichaltrigen-Gruppe, ob einer dazugehört, ob er sich abkapselt, ob er ausgeschlossen oder gemobbt wird.


In der Schule fällt aber nur der Störer auf . . .


. . . genau, Schule reagiert sehr viel stärker auf aggressives Verhalten, auf Unruhe und Störung. Zurückgezogene, stille und traurige Mädchen fallen nicht so auf, sie stellen für die Lehrer, für den Unterricht kein Problem dar. Da gibt es Mädchen, die im Unterricht quasi nie gesprochen haben. Ich frage mich schon: Wie kommen diese Kinder zu ihren Noten?


Wie können Eltern vorbeugen? Oder anders gefragt: Wie sieht eine glückliche Kindheit denn aus?


Ein kleines Kind braucht Schutz, Essen und einen Tagesrhythmus. Und das Wichtigste: Es braucht Liebe, es braucht Menschen, die es mögen. All das haben wir bei vernachlässigten Kindern nicht. Die zweite Phase: Hänschen klein geht in die weite Welt hinein. Kinder gehen raus, um sich auszuprobieren, und sie kommen wieder heim, um aufzutanken. Eltern können viel dafür tun, dass Kinder sich ausprobieren und sie in reale Gruppen bringen.


Hat sich die Versorgungssituation in Deutschland, speziell in Ulm, verbessert?


Beides kann man bejahen. Die unterversorgteste Region in Baden-Württemberg war unsere, jetzt haben wir eine sehr gut auf die Region abgestimmte Versorgung. Was wir, im Gegensatz zu anderen Universitätskliniken, nicht haben: eine Kinderpsychosomatik und ein spezifisches Transitionsangebot, also ein Angebot, das den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenen-Alter begleitet. Stichworte: Hotel Mama und Generation Praktikum. Viele haben mit 22 oder 23 Jahren noch sehr enge Beziehungen zu den Eltern. Das heißt: Man muss auch bei diesen jungen Erwachsenen noch die Eltern in die Therapie einbinden und Ausbildungsperspektiven klären.


Betreuen Sie unbegleitete Flüchtlinge in der Klinik?


Ja, wir hatten die letzten zwei Jahre Selbstmordversuche von Flüchtlingen, wie ich sie nicht kannte. Problematisch ist die Verständigung. Über die Sprache bekommt unser Personal bei deutschen oder in unserem Kulturkreis aufgewachsenen Jugendlichen schnell ein Gefühl für die akute Gefährdung. Wir haben leider oft nicht die passenden Dolmetscher zur Verfügung. Das beschäftigt uns immer wieder stark. Die Hausordnung und andere Materialien stehen jetzt schon in vielen Sprachen zur Verfügung. Mittlerweile arbeiten wir mit einem webbasierten Programm, mit dem wir Jugendliche in mehr als 20 verschiedenen Sprachen nach ihren Belastungen fragen können.


Wie stark sind die Traumata, die die Kinder und Jugendlichen erlebt haben?


Sie sind ganz massiver Natur. Kinder mussten zum Beispiel erleben, wie vor ihren Augen Angehörige getötet wurden. Mädchen und Jungen, die auf der Flucht waren, wurden sexuell missbraucht. Und: Die unklare Perspektive hier trägt auch nicht zu einer Stabilisierung bei.


Wie kam es zu dem Kongress-Titel „dazugehören“?


Das Thema stammt von den Kindern selber. Mit Teilhabe oder Inklusion können Kinder wenig anfangen, das ist nicht die Sprache der Kinder. Dazugehören ist für Kinder ein zentrales Bedürfnis.


Dazugehören ist der Wunsch, ausgegrenzt sein für manche die Realität.


Der Gegensatz zu früher ist, dass alles ins Netz gestellt wird. Was da in den Schulen passiert, Nacktbilder, Beleidigungen und so weiter kann die Ursache für schambesetzte seelische Krisen sein. Mobbing zum Beispiel in der Schule bedient sich immer wieder neuer Diskriminierungsbegriffe: Spast, Bordi, Autist, Anorexe, Depri oder Mof.


Mof?


Mensch ohne Freunde. Neu ist auch: Das Internet wirkt wie ein Brennglas. Auf unserer Kongress tasche haben wir auf der einen Seite Ausgrenzungsbegriffe dargestellt, auf der anderen Seite das Kongress-Motto „Dazugehören“ als Antwort gesetzt.


Wie sehr fühlen Sie sich von der Stadt unterstützt?


Sehr – und das nicht, weil ich schleimen will (lacht). Die Entwicklung war dank der Unterstützung im Klinikum sensationell, ohne die gute Zusammenarbeit mit der Stadt, den Schulen, der Jugendhilfe wäre das nicht möglich gewesen. Der beste Beweis ist der Bau der Klinikschule, den der Gemeinderat mit großem Konsens unterstützt hat: Zwar kommt ein Großteil der Schüler gar nicht direkt aus Ulm, aber Ulm ist als Schulträger zuständig. Ein bisschen schofel haben sich die Landkreise drumherum schon verhalten, denn die meisten Kosten trägt die Stadt Ulm.

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