Bayern auf dem Weg in die Überwachung?

21. April 2018

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Was dürfen Bayerns Polizisten?
Gesetz Die CSU will der Polizei erheblich mehr Kontrollbefugnisse geben. Opposition und Verbände laufen Sturm. Sie fürchten die totale Überwachung. Was der Innenminister dazu sagt

Von Holger Sabinsky-Wolf und Uli Bachmeier

München Mit einem neuen Polizeiaufgabengesetz (PAG) will die CSU die Befugnisse der bayerischen Polizei erheblich ausweiten. Das Gesetz soll am 15. Mai im Landtag verabschiedet werden. Doch ein breites Bündnis fürchtet einen Überwachungsstaat und will das verhindern. Mehr als 40 Parteien, Verbände, Vereine und Organisationen haben sich am Freitag zusammengeschlossen. Sie rufen zu Bürgerprotesten auf.

Anlass für die Änderungen sind die neue EU-Datenschutzrichtlinie und das sogenannte BKA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2016. Die Richter hatten Befugnisse des Bundeskriminalamts im vorbeugenden Kampf gegen den Terrorismus teilweise als verfassungswidrig kassiert. Doch die CSU will bei dieser Gelegenheit der Polizei deutlich mehr Kontrollbefugnisse und größere Macht geben. Schon bei einer abstrakt „drohenden Gefahr“ soll es den Beamten möglich sein, präventiv Telefone abzuhören, Computer und online gespeicherte Daten auszulesen oder verdeckte Ermittler einzusetzen. Bisher muss eine „konkrete Gefahr“ vorliegen, wenn die Polizei so massiv im Vorfeld eingreifen will.

Zudem will Bayern diese Maßnahmen nicht nur zur Terrorabwehr nutzen, sondern auch dann, wenn bedeutende Rechtsgüter in Gefahr sind, wie es im Juristendeutsch heißt. Dazu gehören Leben, Gesundheit und Freiheit, aber auch Dinge, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse sind, Strommasten zum Beispiel.

Nach dem aktuellen Gesetzentwurf soll die Polizei auch Informationen aus DNA-Spuren zur Fahndung verwenden dürfen, die neben dem Geschlecht auf die Haar-, Augen- und Hautfarbe schließen lassen. Außerdem soll sie neben Handgranaten und Maschinengewehren künftig auch Sprenggeschosse einsetzen dürfen.

Das Gutachten eines Juristen bescheinigt dem 200-seitigen Gesetzentwurf die umfassendsten polizeilichen Eingriffs- und Kontrollrechte seit 1945. Jetzt macht ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen und Verbände gegen das neue PAG mobil. Mit dabei sind SPD und Grüne, die im Landtag kaum mehr eine Chance sehen, das Gesetz zu stoppen – auch wenn SPD-Chefin Natascha Kohnen Anzeichen für ein Umdenken bei Ministerpräsident Markus Söder erkannt haben will.

Außerdem unterstützen FDP, ÖDP, Linke, einzelne Gewerkschaften, Fußballfans und der Bayerische Journalistenverband das Bündnis „#noPAG“, das für den 10. Mai eine Großkundgebung auf dem Münchner Marienplatz angekündigt hat. Bündnis-Sprecher Simon Strohmenger rechnet mit 7000 Teilnehmern. Er wirft der CSU vor, die Polizei zunehmend zu einem „Überwachungsapparat“ aufzurüsten.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann verteidigt das Gesetz vehement: „Die Behauptung, der Freistaat sei auf dem Weg zum Überwachungsstaat, ist natürlich grober Unfug“, sagte der CSU-Politiker unserer Zeitung. Hauptziel der Reform sei vielmehr, „dass unsere Bürger auch in Zukunft in Bayern sicher und frei leben können“. Mehr polizeiliche Maßnahmen als bisher bedürften der Zustimmung eines Richters, betonte Herrmann.

Die Aufregung um die präventiven Eingriffsrechte für die Polizisten versteht der Innenminister überhaupt nicht: „Gefahrenabwehr und Prävention sind Kernaufgaben der Polizei.“ Empört zeigt sich der Minister über „Falschbehauptungen“ der Kritiker. „Auch künftig darf niemand ohne die Entscheidung eines Richters länger als bis zum Ablauf des nächsten Tages eingesperrt werden“, beteuerte Herrmann.

Wie Uli Bachmeier das neue Polizeigesetz bewertet, lesen Sie im Kommentar . Die wichtigsten Fragen und Antworten zu dem Thema finden Sie auf Bayern .

Freiheit contra Sicherheit
Landtag Bayerns Polizei soll deutlich mehr Eingriffsrechte erhalten. Der Streit darüber wird nicht nur sachlich geführt. Die Lage ist unübersichtlich. Die Rede ist von Handgranaten und schier grenzenloser Überwachung. Doch was stimmt denn nun?

Von Uli BaCHMEIER und Holger Sabinsky-Wolf

München Es ist der alte Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit. Um jedem Bürger Sicherheit garantieren zu können, ist der Staat gezwungen, die Freiheit des Einzelnen in einem bestimmten Maß einzuschränken. Aber wo genau liegt das richtige Maß? Das ist auch der große Streitpunkt beim neuen Polizeiaufgabengesetz (PAG).

Warum braucht es überhaupt ein neues Polizeiaufgabengesetz?

Eine Novellierung des Gesetzes ist schon rein formal nötig, weil die bisherigen rechtlichen Regelungen den neuen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und der europäischen Datenschutzrichtlinie angepasst werden müssen. Das Innenministerium macht darüber hinaus geltend, dass die Polizei Schwerkriminellen und Terroristen nicht hinterherhinken dürfe. Sie brauche moderne Instrumente auf der Höhe der Zeit. Kritiker bestreiten das. Die Kriminalität sei rückläufig, eine Ausweitung polizeilicher Befugnisse sei deshalb nicht gerechtfertigt.

Was soll die Polizei künftig dürfen?

Das Innenministerium nennt dazu einige Beispiele: Die Polizei kann Daten künftig auch in Cloud-Speichern sicherstellen. Bisher kann sie zur Gefahrenabwehr nur Daten auf dem Endgerät selbst abrufen, nicht aber Daten, die auf anderen Servern gespeichert sind. Die Polizei kann bei Verdacht bevorstehender schwerer Straftaten DNA-Spuren auswerten, um Alter, Haut- und Haarfarbe sowie Herkunft des Verdächtigen zu Fahndungszwecken einzusetzen. Bei Paketzustelldiensten oder der Post darf die Polizei künftig Bestellungen über das Darknet sicherstellen, zum Beispiel, um illegale Waffen aus dem Verkehr zu ziehen. Der Rechtsexperte der SPD im Landtag, Franz Schindler, hat insgesamt 35 neue Eingriffsrechte aus dem umfangreichen Gesetzentwurf herausgefiltert: neue Meldeanordnungen (Aufenthaltsgebote und Aufenthaltsverbote), einfachere Sicherung von Vermögensrechten, erweiterte Videoüberwachung, verdecktes Abhören außerhalb von Wohnungen, automatische Kennzeichenerfassung.

Was sind die Hauptkritikpunkte der Gegner?

Die wichtigste Kritik der PAG-Gegner ist, dass nicht nur Befugnisse erweitert werden, sondern dass mit dem neuen Gesetz die Eingriffsschwelle für die Polizei deutlich abgesenkt wird und damit Bürger- und Freiheitsrechten eine massive Einschränkung droht. Das betrifft insbesondere jene Fälle, in denen noch gar keine Straftat vorliegt, also den Gesamtbereich von Prävention und Gefahrenabwehr. Für den bayerischen Datenschutzbeauftragten Thomas Petri etwa ist die „präventiv-erweiterte DNA-Analyse“ ein „rechtsstaatlicher Tabubruch“.

Werden Bürgerrechte und der Datenschutz eingeschränkt?

Das Innenministerium sagt nein. Im Gegenteil: So würden zum Beispiel Daten aus Abhörmaßnahmen künftig vorab durch eine unabhängige Stelle auf Betroffenheit des absoluten Privatlebens geprüft. Daten aus dem rein privaten Bereich seien „absolut tabu“. Eine unabhängige Datenprüfstelle beim Polizeiverwaltungsamt leiste Gewähr dafür, dass solche Daten nicht ausgewertet und verwertet werden dürfen. Zudem verweist das Ministerium auf den Richtervorbehalt: V-Leute dürfe die Polizei erst dann einsetzen, wenn vorher ein unabhängiger Richter zugestimmt hat. Auch eine längerfristige Observation stehe künftig unter Richtervorbehalt. Kritiker haben da massive Zweifel. Sie verweisen insbesondere auf den mangelhaften Rechtsschutz von Verdächtigen. Anders als in Strafverfahren stehe den Betroffenen bei einem polizeilichen Eingriff nicht automatisch ein Rechtsanwalt zur Verfügung, ihre Beschwerdemöglichkeiten seien beschränkt und Schadenersatz für ungerechtfertigt angeordnete Maßnahmen sei nicht vorgesehen. Der Rechtsanwalt und Kritiker des Polizeiaufgabengesetzes, Hartmut Wächtler, ist überzeugt: „Es wird mit Sicherheit viele Bürger treffen, die zu Unrecht in das Visier der Behörden geraten sind.“

Stimmt es, dass ein potenzieller Straftäter künftig ohne Anordnung eines Richters über einen längeren Zeitraum eingesperrt werden kann?

Nein. Auch künftig soll die Polizei einen Verdächtigen nur bis zum Ablauf des folgenden Tages festhalten dürfen. Dann muss ein Richter Untersuchungshaft verfügen. „Andere Behauptungen sind eine Unverschämtheit“, ärgert sich Innenminister Herrmann.

Stimmt es, dass die bayerische Polizei künftig Handgranaten und Maschinengewehre einsetzen darf?

Ja, aber: Das darf sie theoretisch bisher schon, und zwar nur in besonderen Situationen wie einem Terrorangriff. Zudem stehen solche Kriegswaffen ausschließlich den beiden Spezialeinsatzkommandos (SEK) zur Verfügung. Und die müssen sich jeweils im Einzelfall die Genehmigung zum Einsatz vom Landespolizeipräsidenten holen. Neu ist im Gesetzentwurf, dass die Spezialkommandos in Zukunft auch Sprenggeschosse benutzen dürfen sollen, zum Beispiel, um eine Tür aufzusprengen.

Was steckt hinter dem Streit um die Begriffe „konkrete Gefahr“ und „drohende Gefahr“?

Bisher waren weitreichende Überwachungsmaßnahmen nur möglich, wenn eine „konkrete Gefahr“ vorlag. Die CSU arbeitet nun stark mit dem Begriff „drohende Gefahr“, den das Bundesverfassungsgericht eingeführt hat. Für massive Eingriffe reicht es nun aus, wenn wahrscheinlich in überschaubarer Zukunft eine Straftat begangen wird. Eine konkrete Gefahr liegt jetzt nur noch vor, wenn neben einer Drohung auch Ort und Zeit bekannt sind. Das Ministerium nennt Beispiele: „Der gekränkte, aber untergetauchte Ehemann hat angekündigt, seine Frau aus Rache töten zu wollen. Hier darf die Polizei nicht abwarten müssen, bis sie weitere Erkenntnisse zu Ort und Zeit der Tat hat.“ Ähnliches gelte auch für die Verabredungen von potenziellen Terroristen, mit einem Auto in eine Menschenmenge fahren zu wollen. „Solche Gefahren müssen schon in der Entstehungsphase unterbunden werden können und nicht erst, wenn die Polizei nachweisen kann, wann und wo der Anschlag definitiv stattfindet“, sagt Innenminister Joachim Herrmann.

Wann soll das neue Gesetz verabschiedet werden und woher die Eile?

Laut Innenministerium müssen die Datenschutzvorgaben der EU bis zum Mai 2018 umgesetzt sein. Die CSU will das Gesetz deshalb Mitte Mai im Landtag beschließen. Einen Zeitdruck für die Ausweitung polizeilicher Befugnisse gibt es allerdings nicht. Dieser Teil des Gesetzes ist politisch motiviert und deshalb heftig umstritten. Die CSU beharrt darauf, der Polizei mehr rechtliche und technische Instrumente an die Hand zu geben. Kritiker werfen ihr vor, mit „Law-and-Order“-Politik Wahlkampf zu machen und weit über das Ziel hinauszuschießen.

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