Tafel... ein Bericht...

04. März 2018

Lesen SIE bitte die NUZ.... es ist gut, dass Lebensmittel nicht venichtet werden. Es ist eine Schande, dass es Menschen gibt, die darauf angewiesen sind!

Neue Armut
Soziales Seit die Tafel in Essen an Flüchtlinge keine Lebensmittel mehr ausgibt, ist in Deutschland eine Debatte darüber entbrannt, wer bedürftig ist. Auch die Tafeln in der Region haben immer mehr Kunden – eine Folge der Flüchtlingskrise. Doch sie haben Lösungen

Von galina Bauer

Lagerlechfeld/Schwabmünchen Als Doris D.s Mann vor drei Jahren starb, ließ er sie mit drei kleinen Kindern zurück – das Jüngste gerade erst ein Jahr alt. Die Frau aus den Stauden, Anfang 40, kurzes Haar, heißt in Wirklichkeit anders. Und sie hat in den vergangenen drei Jahren vor allem eins gelernt: Diese „Was wäre wenn“-Gedanken, die ihr immer wieder in den Kopf kommen, lohnen sich nicht. Weder, wenn sie mit einem Buch in der Badewanne liegt, noch in den wenigen Stunden Zeit, die sie pro Woche für sich hat. Das sind dann die Stunden, in denen sie für ihre Familie Essen besorgt. Nicht im Supermarkt, wie die anderen Mütter. Sondern bei der Tafel in Schwabmünchen oder Lagerlechfeld im Landkreis Augsburg.

Ihr Schwager passt dann auf die vier, fünf und sechs Jahre alten Kinder auf. Und selbst hier, in der Warteschlange, kreisen die Gedanken im Kopf von Doris D.: „Ich hätte niemals gedacht, irgendwann auf die Tafel angewiesen zu sein.“ Dann schüttelt sie den Kopf. Ihr Lächeln kommt zurück und sie sagt: „Das Leben ist trotzdem schön, ich liebe meine Kinder.“ Nun hole sie sich eben bei der Tafel das, was ihre Familie zum Überleben braucht: Essen.

Draußen vor der Tafel in Lagerlechfeld hat es minus zwölf Grad. Es gibt zwar einen Warteraum, doch der kleine Gasofen kapituliert vor den eisigen Temperaturen. Viele warten vor der Tür, Doris D. auch. Sie trägt an diesem Nachmittag eine schwarze Übergangsjacke und eine lässige Jeans. Sie hat eine hohe Nummer gezogen und kommt erst nach über einer Stunde dran. Dann geht sie durch die Regal-Reihen. Für einen symbolischen Betrag von einem Euro – den muss jeder Tafelkunde zahlen – packt sie von allem etwas in die Einkaufstasche: Nudeln, Milch, Joghurt, Äpfel, Salat und Brot. Bis auf ein paar welke Salatblätter sind die Sachen gut. Die meisten Lebensmittel verderben nicht gleich, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht ist. Nur: Supermärkte dürfen sie dann nicht mehr verkaufen. Davon profitieren die Ärmsten, weil Supermärkte, Bäckereien oder Restaurants sie dann den Tafeln schenken.

Die Kinder von Doris D. werden sich diesmal besonders freuen, in den zwei riesigen Einkaufstüten stecken sogar Überraschungseier. Sie lehnt sich in dem engen Raum der Lechfelder Tafel an die Heizung. Ein paar Minuten Mama-Zeit hat sie noch. Sie reibt sich ihre rot angelaufenen Hände und schaut nachdenklich den restlichen Kunden zu. Nicht immer ist es in den vergangen zwei Jahren hier so friedlich abgelaufen, erzählt sie. Oft waren da Pöbler und Drängler. Die alleinerziehende Mutter sagt: „Leider drängeln Asylbewerber häufig. Sie bringen ihre kleinen Kinder mit, stellen sich direkt vor die Tür, nur um schneller dranzukommen.“ Und noch eins ärgert sie: Dass sie oft auf Fisch und helle Semmeln verzichten müsse. „Die werden für Flüchtlinge zurückgehalten, sie essen ja weder Schweinefleisch noch helles Brot. Meine Kinder essen auch keine Körnersemmeln. Was soll ich ihnen vorsetzen?“, fragt sie.

Unter anderem wegen solcher Konflikte hat die Tafel in Essen kürzlich entschieden, Lebensmittel vorübergehend nur noch an Bürger mit deutschem Pass auszugeben. Die Verantwortlichen sagen, dass der Ausländeranteil bei der Essener Tafel zuletzt bei 75 Prozent lag. Vor allem junge ausländische Männer sollen sich rücksichtslos verhalten haben. Senioren und alleinerziehende Mütter haben sich beschwert, sich zurückgedrängt gefühlt. Das hat zu einer bundesweiten Debatte geführt, Spitzenpolitiker aller Parteien haben sich geäußert. Angela Merkel nannte die Entscheidung des Vereins „nicht gut“ – und ist dadurch selbst in die Kritik geraten. Das Problem sei schließlich hausgemacht, hieß es – und Tafeln dazu da, die Symptome des krankhaften Systems zu lindern. Die Stimmung bei der Essener Tafel ist seither angespannt, die Lieferfahrzeuge des Vereins werden mit Beschimpfungen wie „Nazis“ beschmiert.

Ist das ein Essener Problem? Ein Problem der Großstädte? In Schwabmünchen und auf dem Lechfeld sind nur ein Drittel aller Bedürftigen Flüchtlinge, keineswegs die Mehrheit. Auch hat man es hier nicht mit tausenden Tafel-Kunden zu tun. Die Leiterin der Ausgabestelle Lagerlechfeld, Judith Aldinger, glaubt, dass eine Strategie wichtig sei, um einen geordneten Ablauf sicherzustellen. Zu der Tafel in Lagerlechfeld kommen keine Großfamilien aus Asylbewerberheimen und drängeln vor. Denn: „Wir haben festgelegt, dass pro Familie nur ein Asylbewerber zur Tafel darf und für den Rest einkaufen soll.“ Das funktioniere gut, sagt die 54-Jährige. In Schwabmünchen gebe es diese Regelung nicht. Das deckt sich mit den Erzählungen von Doris D.: „In Schwabmünchen drängeln Asylbewerber. In Lagerlechfeld nicht.“

Die Einrichtung in Schwabmünchen wurde als erste Tafel im Landkreis Augsburg vor 17 Jahren gegründet. 2009 kam die Außenstelle auf dem Lechfeld hinzu. Grundsätzlich arbeiten die beiden Läden nach dem gleichen System: Kunden ziehen eine Nummer und werden nacheinander aufgerufen. Familien mit Kleinkindern bis zwei Jahren – das gilt sowohl für deutsche als auch für ausländische Familien – werden vorgelassen. Behinderte auch. Für Peter Wyss, den Leiter in Schwabmünchen, ist es anders „nicht zumutbar“. Daran hat weder der Flüchtlingsstrom etwas geändert, sagt er, noch die Diskussion über die Tafel in Essen. Und Helfer seien auch nicht abgesprungen, sie stemmen weiterhin bei Minusgraden Lebensmittelkisten für Bedürftige.

Als 1993 die erste Tafel in Berlin öffnete, waren die Kunden hauptsächlich Obdachlose. Heute ist auch dort die Stammkundschaft gemischt. Die Tafeln in Schwabmünchen und auf dem Lechfeld versorgen derzeit 294 Bürger: Arbeitslose mit ihren Kindern, Flüchtlinge und Rentner. Wer berechtigt ist, entscheidet jede Tafel für sich. Die meisten allerdings orientieren sich an den Hartz-IV-Sätzen.

Ein paar Beispiele: Da ist die 67-jährige Frau aus Untermeitingen, vier Kinder, neun Enkel, zwei Urenkel. Nach Abzug von Miete, Wasser- und Stromkosten bleiben ihr 240 Euro zum Leben. Für den Friseurbesuch der Mutter legen ihre Kinder zusammen. Sie schämt sich schon lange nicht mehr, sagt sie, dass sie bei der Tafel einkaufen muss. Auch der 35-jährige Mann, der an multipler Sklerose erkrankt ist und zwei Kinder zu versorgen hat, sagt, dass sein Schamgefühl erträglich geworden sei. Denn die Frührente von 640 Euro und das niedrige Gehalt seiner Frau reichen einfach nicht aus. Viele Tafelkunden kaufen seit der Gründung dort ein. Wie die Rentnerin, die 2001 mit ihrem behinderten Sohn noch zu Fuß kam und heute mit dem Rollator kommt.

Sie alle machen sich Sorgen wegen der Diskussionen um die Essener Tafel. Und um die Armut, die wieder steigt in Deutschland. Bis 2005 stagnierte die Armutsquote, neuerdings klettert sie wieder nach oben – auch durch den Flüchtlingszustrom. Denn immer mehr Asylverfahren sind abgeschlossen, immer mehr Flüchtlinge anerkannt. Sie bilden eine neue Schicht Armer, 14 Prozent der Hartz-IV-Empfänger sind laut aktuellen Zahlen Flüchtlinge.

Dass sie aus der Lechfelder Tafel ausgeschlossen werden, so weit werde es niemals kommen, sagt Judith Aldinger. Als sie vor neun Jahren die Leitung dort übernahm, war sie schockiert. Wegen der versteckten Armut vor ihrer eigenen Haustür, vor allem bei den älteren Bürgern. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil: In Lagerlechfeld sind in den letzten Jahren immer mehr Senioren auf die Tafel angewiesen, sagt sie.

Genau für diese Menschen fahren Judith Aldinger und ihr Team mit dem Kühlwagen die Supermärkte ab. Erste Station: der Rewe in Untermeitingen. Aldinger ist zufrieden, es gibt im Moment genügend Lebensmittel für die 35 Haushalte, die sie versorgen müssen.

Vor jedem Supermarkt wartet eine Überraschung. Diesmal sind es Steigen voller Pilze und bündelweise Tulpen. Tulpen? „Manchmal bekommen wir auch Blumen, unsere Kunden freuen sich“, sagt Aldinger. Während die Supermarkt-Mitarbeiter Kisten mit Obst, Gemüse und Überraschungseiern herausbringen, erzählt Aldinger, dass das nicht immer so war. Vor vier Jahren wurde es eng, die gespendeten Waren reichten nicht mehr aus, die Rationen für die einzelnen Familien mussten gekürzt werden. Weshalb die Supermärkte weniger Lebensmittel zur Verfügung stellten? Darüber rätselt sie bis heute.

Denn: Was und wie viel die Armen bekommen, hängt davon ab, ob Lebensmittel übrig bleiben. Gerade vor Feiertagen wird der Nachschub oft knapp, erzählt Aldinger. Immer dann, wenn der Durchschnitts-Supermarktkunde besonders viel einkauft, bleibt für die Tafeln wenig – zu Zeiten also, an denen das Geld sowieso knapp ist und die Bedürftigen deshalb besonders auf das Essen von der Tafel angewiesen sind. Solche Zeiten überbrücken Aldingers Helfer, in dem sie Supermärkte um zusätzliche Spenden bitten.

Während der Flüchtlingskrise war auch so eine Phase. „Wir sind überrannt worden“, sagt der Schwabmünchner Tafelleiter Peter Wyss. Fast über Nacht mussten 60 Leute mehr versorgt werden. „Die Befürchtung vieler Stammkunden, Arme könnten anderen Armen etwas wegnehmen, war groß“, sagt der Rentner. Das sei jetzt besser.

Denn es wird auf jeden Rücksicht genommen. Egal, ob Deutscher oder Flüchtling, ob er Vegetarier ist, keine Wurstpackungen möchte, auf denen Tiere zu sehen sind, nur Fisch isst – oder eben keine Körnersemmeln mag. Wenn das helle Brot dann aus ist, fährt Doris D. eben weiter zum nächsten Supermarkt – und kauft ein paar Semmeln für ihre Kinder.

Je nachdem, ob jemand alleinstehend ist oder für eine Familie einkauft, fällt der Einkauf größer oder kleiner aus. Fotos: Marcus Merk

Wie in einem richtigen Supermarkt gehen Bedürftige von Regal zu Regal und suchen sich Ware aus. Pro Einkauf zahlen sie einen Euro.

Jeder Tafelkunde muss eine Nummer ziehen. Vordrängeln kann sich niemand – nur Eltern mit Kleinkindern und Behinderte werden in Schwabmünchen vorgelassen.

Auch bei eisigen Temperaturen stehen Bedürftige zwei Mal in der Woche bei der Tafel in Schwabmünchen an, um dort Lebensmittel einzukaufen.

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