ein Bericht der NUZ...
Der Preis des Widerstands Krise In Venezuela herrscht das, was man Chaos nennt. Zehntausende sind zuletzt gegen das Regime Maduro auf die Straße gegangen. Sie haben genug von Hunger und Hoffnungslosigkeit. Manche zahlen dafür mit dem Leben. Zu Besuch in einem Land, das am Abgrund steht
Von Tobias käufer
Cristóbal Schon die Einreise von Kolumbien aus über den Landweg ist ein kleines Abenteuer: Von den insgesamt acht Plätzen im kleinen Raum der venezolanischen Migrationsbehörde in San Antonio ist gerade einmal einer besetzt. Dort wartet ein grimmig dreinschauender Beamter, der erst einmal mit dem Reisepass verschwindet. Ein Deutscher, der einreisen will – das muss der Vorgesetzte entscheiden. Nach ein paar Minuten kommt der Beamte zurück. Einreise genehmigt. Seine Kollegen auf der anderen Seite haben deutlich mehr zu tun: Tausende Venezolaner verlassen an diesem Grenzübergang ihr Heimatland in Richtung Kolumbien. Die einen, die große Koffer dabei haben, vielleicht für immer, die anderen, um in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta zu arbeiten.
Das nächste Problem ist gravierender: Wie soll man nach San Cristóbal kommen? Die venezolanische Oppositionshochburg, eingeschlossen von grünen Berghügeln, ist rund eine Autostunde von der Grenze entfernt. Doch das Transportsystem in Venezuela ist zusammengebrochen. Im ölreichsten Land der Welt gibt es keinen Sprit. Dafür unzählige Autos mit Riesentanks, die offenbar das Benzin über die Grenze nach Kolumbien schmuggeln, um es dort zu verkaufen. Das Öl ist die einzige nennenswerte Einnahmequelle Venezuelas. Das Land hat sich bei Russland und China verschuldet und muss nun Milliardenkredite mit Öl tilgen. Für Geld, das längst ausgegeben ist. Die Amerikaner, die mit harten Dollars zahlen, wollen künftig ihre Rechnung nicht mehr beim sozialistischen Regime von Nicolás Maduro begleichen, sondern beim Interimspräsidenten Juan Guaidó. Die Konten der venezolanischen Zentralbank in den USA sind laut US-Senator Marco Rubio bereits in die Kontrolle Guaidós übergegangen.
Ein Fahrer ist bereit, den Transport in Richtung San Cristóbal zu übernehmen. Für kolumbianische Pesos allerdings, nicht für venezolanischen Bolívar. Die Venezolaner haben das Vertrauen in die Landeswährung komplett verloren angesichts einer Hyperinflation von mehr als einer Million Prozent. Das Maduro-Regime versuchte es immer wieder mit neuen Währungen, der Krypto-Währung Petro, einem neuen Bolívar, der alle Jahre seinen Namen ändert. Hier, unweit der Grenze, wird fast alles in Pesos abgerechnet. Es ist die inoffiziell akzeptierte Parallelwährung, deswegen ist die Versorgungslage im Grenzstädtchen San Antonio auch deutlich besser als im Landesinneren.
Auf dem Weg nach San Cristóbal gibt es alle paar Kilometer Kontrollen. Mal sind es die Drogenfahnder, mal die Nationalgarde, mal Sonderermittler, die Polizei. Dann heißt es: raus aus dem Auto, den Pass vorzeigen, den Kofferraum öffnen, den Rucksack. „Reine Schikane ist das, weil wir hier gegen die Regierung sind“, sagt Fahrer Arturo, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will.
Es geht vorbei an verwaisten Tankstellen des staatlichen Ölkonzerns PDVSA, die mit Gittern versperrt sind. Preistafeln gibt es nicht, denn die venezolanische Regierung verschenkt den Sprit an ihre Bevölkerung. Eine Tankfüllung kostet umgerechnet nicht mal einen Euro. Ökonomischer Irrsinn, der ideologisch damit begründet wird, dass das venezolanische Öl den Venezolanern gehöre. Nur, dass die das Benzin unter der Hand gleich wieder verkaufen.
Zumindest in den seltenen Fällen, in denen es welches gibt. An diesem Tag allerdings sind fast alle Tankstellen außer Betrieb. Vor der einzigen offenen Zapfsäule hat sich eine Schlange gebildet, die mehr als vier Kilometer lang ist und sich durch die Straßen von San Cristóbal windet. Von denen, die ganz vorne stehen, übernachten einige sogar im Auto. Niemand will seinen guten Platz aufgeben, denn es ist unsicher, wann der nächste Tankwagen des staatlichen Ölkonzerns kommt und Nachschub bringt.
In San Cristóbal, der Stadt mit ihren 150 000 Einwohnern im Bundesstaat Tachira, ist vieles anders als im Rest des Landes. Hier hat sich die Opposition formiert, hier verfügt sie über ein Netzwerk, mit dem Aktionen gesteuert werden. Es gibt Whatsapp-Gruppen, die über die nächste Demonstration informieren, die vor Polizeisperren warnen oder Verhaltenstipps bei Festnahmen geben.
Am 23. Januar, dem Tag, an dem ich der Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Übergangspräsidenten des Landes erklärte, gingen Zehntausende auf die Straßen, um sich hinter den jungen Ingenieur zu stellen. In San Cristóbal, aber auch in der Hauptstadt Caracas, in Maracaibo, in Maracay. Guaidó gibt den Menschen Hoffnung, die seit Jahren unter dem Regime Maduro leiden, unter Hunger, Arbeitslosigkeit und Korruption.
Maduro hat in den letzten Jahren alle möglichen Rivalen ausgebootet. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles und die populäre Abgeordnete Maria Corina Machado: Berufsverbot. Der ehemalige Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma: im Exil. Der populäre und potenzielle Präsidentschaftskandidat Leopoldo Lopez: nach Haft unter Hausarrest. Ex-Parlamentsparlament Julio Borges: im Exil.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 trat Maduro gegen den chancenlosen Kandidaten Henri Falcon an, der ohnehin als Marionette der Sozialisten galt. Deswegen erkennt die Opposition, die bei den letzten wirklich freien Wahlen Ende Dezember 2015 eine haushohe Mehrheit einfuhr, die zweite Amtszeit Maduros nicht an, die am 10. Januar begann. Die Verfassung sehe dann einen Interimspräsidenten vor, der Neuwahlen organisiert, argumentiert die Opposition und berief den neuen Parlamentspräsidenten Guaidó zum Übergangsstaatschef. Der saugt nun die Zustimmung der Venezolaner auf wie ein Schwamm. Innerhalb von wenigen Stunden verdoppelte sich seine Follower-Zahl bei Twitter auf fast eine Million. Weltweit rufen Exil-Venezolaner auf, den 35-Jährigen zu unterstützen. Für Mittwoch und Samstag hat Guaidó im ganzen Land zu neuen Protesten aufgerufen. „Unsere Forderungen sind: Die Streitkräfte sollen sich auf die Seite des Volkes stellen und die humanitäre Hilfe durchlassen, die wir bereits in der ganzen Welt beantragt haben.“
Doch demonstrieren ist in Venezuela lebensgefährlich. Wie gefährlich, das wissen die Studenten, die an diesem Tag in die Aula der Universität gekommen sind. Hunderte wollen sich von ihrem Kommilitonen Luigi Guerrero verabschieden. Abwechselnd nehmen sie Aufstellung an Luigis Sarg. Es wird geweint, viel geweint an diesem Nachmittag. Auch Luigi war am 23. Januar auf den Straßen, zum ersten Mal in seinem Leben hat er demonstriert, berichtet die Lokalzeitung.
Dann kamen die gefürchteten „Colectivos“, die paramilitärischen Banden Maduros. Sie kommen oft aus dem Nichts, bewaffnet, vermummt und auf Motorrädern. Dann schießen sie in die Menge und verschwinden wieder. Die Studenten der Universität sagen, einige von ihnen hätten einen kubanischen Akzent gehabt. „Luigi ist drei Mal von Schüssen der Colectivos getroffen worden und war sofort tot“, berichtet Kevin Ibarra, der an dem Tag zusammen mit dem 24-Jährigen demonstriert hat. „Die Colectivos wollen Angst verbreiten, damit die Leute, besonders die Studenten, schweigen.“ Luigis Onkel Alexander Ovalle ist am Boden zerstört: „Luigi war niemals gewalttätig, es war seine erste Demonstration. Er wollte nur das, was seine Kommilitonen auch wollten: ihren Willen nach Freiheit auszudrücken.“
Mindestens 35 Menschen sind bei der Protestwelle in der vergangenen Woche gestorben. Trotzdem wollen sie in San Cristóbal wieder auf die Straße gehen. Das Tauziehen um die Macht, es ist überall im Land spürbar. Nur noch 20 Prozent der Venezolaner sollen hinter Nicolás Maduro stehen. Den kümmert das nicht. Er demonstriert seine Stärke als Präsident, als Oberbefehlshaber, als Kommandant mit Zugriff auf das ganze Waffenarsenal der venezolanischen Armee. Guaidó dagegen präsentiert sich an der Seite des Volkes, bei Bürgerversammlungen, zu denen Zehntausende kommen.
China und Russland stehen auf der Seite Maduros, die USA und weite Teile der EU aufseiten Guaidós. Für Venezuela, so viel ist klar, wird es eine entscheidende Woche. Und viele fürchten, dass Luigi Guerrero nicht das letzte Opfer bleiben wird.
San Cristóbal am Wochenende: Studenten tragen den Sarg des erschossenen Studenten Luigi zu Grabe. Fotos: Tobias Käufer
Die Schlange vor der Zapfsäule ist kilometerlang
Maduros Banden kommen oft aus dem Nichts